Mittwoch, 28. Juli 2010

Kleber.

„Und wenn jetzt die sogenannten Verantwortlichen zur sogenannten Verantwortung gezogen werden, dann wird das keinen der Toten wieder zum Leben erwecken, und trotzdem verlangt alles danach, dass eine solche Katastrophe Konsequenzen hat, dass jemand dafür büßt, und das heißt, leidet für das, was er oder sie verursacht hat. So ist das immer nach solchen Unglücken und am Ende passiert es doch fast nie – jedenfalls nicht in dem Sinn, dass jemand hinter Gitter muss.“
Etwa so, die Zeichensetzung wurde frei erfunden, sprach Claus Kleber am heutigen Abend, dem 27. Juli 2010, zu der Gemeinschaft des Spektakels. Schier unsättigbar saßen sie wohl, Chips, Bio-Äpfel oder Schnittchen kauend, Bier, Bio-Nade oder irgendeine Schorle trinkend, auf ihren Ikea-Sofas und fühlten sich beteiligt. Beteiligt als Augenzeugen, als Zeugen des Fernsehspektakels Loveparade, das am Samstag, den 24. Juli 2010, zunächst nur im WDR und ca. ab 17.00 auf allen deutschen Kanälen stattfand und immer noch anhält. Claus, seines Zeichens Stadionsprecher der Nation, liefert die saftigen Steaks in Form kurzgedachter Kommentierungen vor dem eigentlichen Beitrag – ein Problem, das Claus schon seit Beginn seiner Heute-Journal-Herrschaft mit sich herumschleppt, es macht ihm offensichtlich Spaß sich für uns zu schänden. Nun ist in diesem besonderen Fall – das TV-Ereignis Loveparade, das Bild-Ereignis Massenpanik – ein „kritischer“ Kommentar Pflicht, das weiß Claus, das weiß ich, das weißt auch Du, doch was wir nicht wissen, ist, wer oder was uns das Recht gibt, den symbolischen Tod eines/einer vermeintlich(en) „Schuldigen“ zu fordern, gar zu vollstrecken. Sind wir Henker in Gottes Gnaden? Stehen wir über dem Gesetz, welches wir als vermeintliche Konstitution unserer Freiheit verehren? Sind wir gar das Gesetz der Rache? Fleischgewordene Erinnyen auf der Suche nach dem einen Orest? Gewiss, fordern sollte man dürfen, dem widerspricht hier niemand. Doch was sollte man fordern? Oder anders: Was sollte oder kann man nicht fordern?
Kleber (vormals Claus) fordert, stellvertretend für „alles“, „dass eine solche Katastrophe Konsequenzen hat“. Das hat sie. Sowohl empirische (die Zahlen spuken durch alle Medienfenster) als auch psychologisch-traumatische (immer An- und Abwesend zugleich) Konsequenzen und viele mehr. Kleber meint wohl andere Konsequenzen, Konsequenzen die „wir“ jemandem oder etwas auferlegen können – aktiv werden, nicht mehr tatenlos zusehen (klingelt es sofort auch im verschmalzesten Ohr).
Doch welcher Art sollen diese Konsequenzen sein? Die Antwort ist schneller als die Frage die sie fordert: „dass jemand dafür büßt.“ Jemand also. Kein Ding, kein Etwas, ein Jemand ist es also geworden. Was soll das sein ein Jemand? Ein Mensch? Ein Mann? Eine Frau? Eine Institution? Jemand „der leidet“, hilft uns Kleber auf die Sprünge. Das haftet. Ein Opfer denkt man. Ein Opfer, das für das steht, was Geschehen ist. Ein Opfer, das die Schuld nicht nur verkörpert, nicht nur repräsentiert, ein Opfer, das nicht nur für „alles“ steht, sondern auch, und das vor allem, im Opfer existiert. Eine alte Geschichte. Das Opfer, das entweder im Vorfeld gefunden und als Opfer bestimmt, bezeichnet und behandelt/benutzt wird, oder aber im Nachhinein gefunden werden muss um sein Opferdasein zu vollziehen. Im Nachhinein! Danach! Wenn es geschehen ist. Wenn das Ereignis schon nicht mehr stattfindet, außer im Bild natürlich, wenn das Ereignis nicht mehr stattfindet aber doch noch da ist, nicht vollendet wurde. Zu dem Ereignis gehört immer auch sein ritueller Abschluss. Wir haben keine Kontrolle über das Ereignis, woraus es sich konstituiert, aus der Unmöglichkeit es zu denken, zu beschreiben, zu tun. Die Ohnmacht, die aus der Unmöglichkeit resultiert muss verschoben/aufgeschoben werden – könnten wir sie denn abschaffen? Das Ritual ist der wahnsinnige Versuch dem Schein der Kontrolle gerecht zu werden. Das Ritual gibt uns den Schein eines selbst herbeigeführten Abschlusses des Ereignisses auf das wir nie Einfluss gehabt haben werden. So brauchen wir also das Opfer, wie Kleber bestätigt, das Opfer das „büßt“ für das, was es zu verantworten hat. Ist es dann noch ein Opfer? Wohl kaum. Macht doch das Opfer aus, dass es eben unschuldig sein muss – das kann man sich bei den alten Griechen abgucken – dass es eben aus freien Stücken zum Opfer wird um sich als Teil der Gemeinschaft zu erheben und für die Gemeinschaft Recht zu erfahren.
Worauf Kleber hinaus will, ist nicht das Opfer wie die Griechen oder andere es bestimmten, worauf Kleber hinaus will, ist vor allem die „sogenannte“ politische Verantwortung – der symbolische Tod. Das Zurücktreten des OBs beispielsweise, das Rollen eines öffentlichen Kopfes (im besten Falle wahrscheinlich auch gerne Köpfe), eines öffentlichen Menschen, obwohl: wir waren ja noch beim Jemand, bei dem sich eine Berichterstattung lohnt. Dem Kleber geht es wohl „nur“ um die Aufrechterhaltung der journalistischen Automatismen: Vorbereitetsein auf ein Ereignis, Wettlaufen (zwangsläufig immer hinterherlaufen) mit dem Ereignis in der Live-Schalte, Aufbereiten des Ereignisses und schließlich der rituelle Abschluss des Ereignisses – es sind noch andere in der Leitung. Mit dem öffentlichen symbolischen Tod des Jemand ist der medialen Gerechtigkeit genüge getan und das Bildereignis, zumindest formal, beendet. Clinton hat gestanden, Armstrong wird gestehen.
Doch spricht der Kleber für uns, bzw. geben wir seinen Worten eine uns betreffende Bedeutungsmöglichkeit, dann müssen wir tatsächlich Fragen nach Verantwortungen stellen, nach Verantwortungen, die nicht einen Jemand zum Scheiterhaufen führt, damit der Wind dessen Asche und vor allem das Ereignis hinfort bläst, sondern Fragen nach unserer Verantwortung. (Vorsicht! Das hält kein Händchen mit Frau Herman!) Es wäre zynisch zu sagen, dass so etwas nun mal passieren kann und doch steckt etwas wahres im Zynismus. Es kann passieren, es muss auch passieren, so die These über den fehlerhaften Menschen, und doch besteht unser täglich Brot in der vermeintlichen Verhinderung der Möglichkeit des Eintretens des Ereignisses. Es wird nur scheinbar alles gesichert. Das „Scheinbar“ ruft schnell den Sicherheitswahn auf den Plan der nicht nur Rhetorik, sondern realisiert sein will, doch ist das im Bereich des Möglichen? Führt die Sicherheit uns tatsächlich in die Sicherheit bzw. ist sie, was sie verspricht? Besteht nicht vielmehr im Begriff der Sicherheit seine immer auch bestehende Unmöglichkeit der Absolutheit? Und wenn die absolute Sicherheit nicht möglich ist, sie trotz allem angestrebt wird, man sich sogar an ihre Absolutheit bis auf Haares Breite annähert, ist nicht dann der Rest, der zur Absolutheit hin fehlt, in seiner Kleinheit, in seiner Haares Breite Zündstoff für das noch „größere“ Ereignis, für die katastrophale Katastrophe? Ist die Katastrophe und ihr wahrgenommenes Ausmaß nicht das Resultat des Scheins der Sicherheit? Anders gefragt: Ist nicht die unmittelbare Nähe der Sicherheit gleichzeitig der größtmögliche Abstand zu ihr? Irren wir nicht längst blinder als Ödipus durch das Labyrinth des Sicherheitsscheins? Hilft der Airbag wirklich?
Dass das Fest, die öffentliche, rituelle Drogeneinnahme im doppelten Sinn, der Lockruf des Rausches unsere liebste Beschäftigung ist, das muss niemand bejahen. Dass die besten Feste jene sind, die nicht als solche geplant wurden bzw. jene, die sich nicht anmaßen die besten Feste werden zu können, ist ein altes Sprichwort. Und doch brauchen wir die Vorfreude, das Vor-Fest, das Zelebrieren der Planung, der Ankündigungen, der euphorischen Vorbereitung usw. In dieser Vor-Arbeit schlummert zumeist ein Problem der Erwartung und der Erwartungshaltung. Das Vor-Freuen und das Teilhaben-Lassen aller Festgäste an dieser Vorfreude bringt den Imperativ des Gelingen-Müssens mit sich. Es wird das größte Fest aller Zeiten, oder so. Doch hier sind wir wieder im Bereich der unmöglichen Sicherheit...
Nebenbei eine kurze Bemerkung zum gerne verwendeten Schlagwort des „friedlichen Festes“. Ist das Feiern nicht grundsätzlich Gewalt? Gewalt am eigenen Körper? Gewalt am anderen durch die eigene Anwesenheit? Ist nicht alleine schon der „Zwang“ zu feiern a priori gewalttätig? Hier soll nicht das Fest beleidigt werden, es geht vielmehr darum, auf die dem Feiern innewohnende Notwendigkeit des Exzesses, der Auflösung bestimmter Regeln und Normen, die Verneinung des Gesetzes zu verweisen. Das Feiern will zumindest immer in die Nähe des Rausches und der Rausch ist mit Kontrollverlust verwandt. Der Versuch dem Rausch mit einem neuem, anderen, immer außerhalb stehendem Gesetz der Sicherheit entgegen zu treten, führt immer die Möglichkeit des Scheiterns in sich, ganz gleich in welcher Form sich das Scheitern äußert.
Dass das Scheitern eine dem Drang nach Sicherheit innewohnende Möglichkeit ist führt zwangsläufig zu der Frage, ob man denn dann auf die Sicherheit weitestgehend verzichten sollte, was hier nicht beantwortet werden kann. Doch gleichzeitig muss man feststellen, dass das bewusste Ignorieren, das Blind-Sein-Wollen gegenüber der kalkulierten und vorhergesehenen Katastrophe die Frage der Verantwortung immer weiter aufreißen wird. Nicht die Katastrophe darf hier jedoch der Maßstab der Verantwortung sein, vielmehr muss die systematische Verschleierung, die gewollte Blindheit gegenüber dem Offensichtlichen, die Verschiebung von Instanzen und Kräfte zum Nutzen der Aufrechterhaltung der gewollten Blindheit der Maßstab für die Verantwortung sein. Vor allem aber die Egozentrik, der Drang nach Bestätigung des Einzelnen/der Institution durch die Masse, der Betrug zugunsten einer unstillbaren Gier nach Material, Anerkennung und letztlich Gottnähe muss als oberste Richtschnur gelten.
Das Ich hat ein Problem.